„Endlich fühle ich mich als Musikerin“ – Pianistin Juliane Linder über ihre Entdeckung des Linkshänderklaviers
- Juliane Linder
- 3. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 4 Tagen
linksrum
Seit geraumer Zeit beschäftige ich mich mit dem Thema „Händigkeit am Klavier“. Mit spezieller Technik lässt sich die Reihenfolge der Tastatur auf elektronischen Tasteninstrumenten umkehren, so dass sich die hohen Töne links und die tiefen Töne rechts befinden. Dabei konnte ich, selbst lange Zeit unerkannte Linkshänderin, feststellen, welch bedeutenden Unterschied es macht, seiner Händigkeit entsprechend zu musizieren. Die Zusammenarbeit sowie Balance zwischen den beiden Händen fühlt sich angenehm ausgeglichen an und der musikalische Ausdruck gelingt bemerkenswert mühelos. So verhält es sich mit der gesamten Klavierliteratur.
rechtsrum
Klavierspielen zu dürfen, ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe.
Mittlerweile kann ich es nur noch linksrum genießen.

Ich spiele seit meinem fünften Lebensjahr Klavier und machte 2010 meinen Abschluss mit Hauptfach Klavier zum Diplom-Musiklehrer an der Musikhochschule Trossingen. Neben meinem akustischen Rechtsklavier besitze ich ein E-Piano. Mit Hilfe eines Keyboardmirrors übe ich seit Oktober 2022 auf meinem E-Piano das Klavierspiel linksrum.
In meinem Text schneide ich 1. das Thema Händigkeit an und schildere 2. meine eigene Erfahrung zu händigkeitsgerechtem Musizieren am Klavier.
Linksklavier
Bei der Linkstastatur werden die Töne am d1 gespiegelt. So wird das c zum e, das f zum h, das g zum a und umgekehrt. Die einzigen Töne, die gleich bleiben, sind gis/as und d. Auch das Pedal wird vertauscht, was aber mein Keyboardmirror noch nicht kann.

1. Händigkeit
Bevor ich auf das Spielgefühl zu sprechen komme, möchte ich ein paar Sätze zur Händigkeit verlieren.
Die Ursache der Händigkeit konnte bisher noch nicht geklärt werden. Zum Beispiel könnten Gene oder Hormone dafür verantwortlich sein, ob wir Links- oder Rechtshänder sind. Sie entsteht im Mutterleib. Das Gehirn steuert sie. Die linke Gehirnhälfte steuert die rechte Hand, die rechte Gehirnhälfte die linke Hand. Die Händigkeit ist unterschiedlich stark ausgeprägt, wobei davon auszugehen ist, dass immer eine Hand dominant ist.
Zusammenfassend bedeutet das: Händigkeit ist angeboren. Eine Hand ist dominant. Die dominante Hand ist reaktionsschneller, kräftiger und geschickter. Die angeborene Händigkeit bleibt ein Leben lang und lässt sich nicht umschulen.
2. Meine eigene Erfahrung mit händigkeitsgerechtem Musizieren
Neugierig, aber ohne große Erwartung probierte ich es aus und dachte, es würde keinen Unterschied beim Klavier machen. Ich schloss einen Keyboardmirror an mein E-Piano an.
a) Spielgefühl
linksrum
Es fühlte sich seltsam und fremd an, doch der musikalische Ausdruck gelang so leicht wie niemals zuvor. Ich ließ meine Finger einfach laufen und phrasierte intuitiv musikalisch überzeugend. Weder mental noch körperlich strengte ich mich an. So mühelos. So selbstverständlich. Verblüffend!
rechtsrum
Erstmals wurde mir bewusst, wie anstrengend und unnatürlich sich das Rechtsspiel für mich anfühlt. Ich bemerkte, wie ich gegen meinen Körper ankämpfte, damit es stimmig klang.
b) Umlernen – Ein Geduldsspiel
Der Prozess
Ich probierte alles auf der Linkstastatur aus, worauf ich gerade Lust hatte. Von der Konzertetüde bis zum Anfängerstück, auch wenn ich anfangs die Hände nur einzeln spielen konnte.
Bis ich zuverlässig mit beiden Händen zusammen spielen konnte, dauerte es lange. Das lag einerseits am Notenlesen, was ich neu üben musste, da nun der Violinschlüssel von der linken Hand und der Bassschlüssel von der rechten Hand gespielt wurde. Andererseits an der Orientierung auf der Tastatur. Außerdem musste ich die Balance zwischen den beiden Händen finden. Meine linke Hand durfte nun endlich führen, was ihr sehr leichtfiel! Es war viel schwieriger, der rechten Hand klarzumachen, wie wenig sie nun zu sagen hatte. Und zu guter Letzt die Technik: In mancherlei Hinsicht hat die linke Hand noch immer Nachholbedarf. Die rechte Hand wurde jahrzehntelang besser trainiert. Da hilft nur dranbleiben. Ich weiß, dass es sich lohnt.
Pedal
Weil ich sonst Rückenschmerzen bekomme, nehme ich das Sustain-Pedal beim Linksspiel unter den linken Fuß und beim Rechtsspiel unter den rechten. Erstaunlicherweise hat mein Fuß Einfluss auf den musikalischen Ausdruck. Ein wesentlicher zweiter Grund, es links zu nehmen.
Anfangs hatte ich ein einzelnes Sustain-Pedal, aber auf vielen Bodenbelägen rutscht es weg. Auch wusste ich nicht, wo ich es genau platzieren sollte. Daher habe ich mir eine Dreierpedalleiste besorgt, ließ die Anschlüsse der Pedalfunktion vertauschen und habe sie fest mit dem Stativ verankert. So können die Pedale nicht wegrutschen und mein linker Fuß kann das Sustain-Pedal bedienen. Beim Rechtsspiel bedient mein rechter Fuß das Sustain-Pedal und muss sich verbiegen.
Kopfhörer
Wichtig! Je besser der Kopfhörer umso besser der Klang. Auch ist es bei guten Kopfhörern nicht nötig, sie beim Linksspielen umzudrehen. Bei billigen Kopfhörern muss man das, denn es ist sehr irritierend für die Wahrnehmung, wenn der Klang von der linken Hand ins rechte Ohr kommt und umgekehrt. Außerdem kann der Bügel des Kopfhörers nach einer Weile brechen, wenn man ihn verkehrt herum aufsetzt. Das war bei mir nach einem Jahr der Fall.
Vorteile des Linksspiels
Die Technik in der linken Hand ist noch ausbaufähig. Im Blatt-Spiel bin ich noch nicht ganz auf Rechtsniveau angelangt. Vieles, was ich hier beschreibe, ging seit dem ersten Ton auf der Linkstastatur wie durch Zauberei einfacher:
Der musikalische Ausdruck gelingt seit dem ersten Ton auf der Linkstastatur bemerkenswert mühelos. Die Aufgabenverteilung der Hände ist ausgeglichen. Mittlerweile habe ich meine Balance zwischen den beiden Händen gefunden und sie ist stimmiger als beim Rechtsspiel. Mein Anschlag ist geschmeidiger geworden, meine Schultern sind entspannter. Meine Sitzhaltung ist aufrechter geworden. Während des Linksspiels kann ich so spontan und differenziert wie nie zuvor auf den Klang, die Phrasierung, den Ausdruck reagieren und flexibel korrigieren. Ich nehme die Musik deutlich und verständlich wahr. Ich kann mir beim Linksspiel verlässlich und aufmerksam von außen zuhören. Bei übereinanderliegenden Klängen wissen meine Finger automatisch, auf welche Töne es ankommt. Ich vertraue auf meine natürlichen Bewegungsabläufe. Jetzt kann ich Musik noch ausdrucksstärker gestalten und zusätzlich auch überzeugend darstellen. Jetzt kann ich Stücke spielen, die mir beim Rechtsspiel verwehrt waren. Endlich fühle ich mich wirklich wie ein Musiker.
Nachteil beim Linksspiel
In Musikschulen steht kein akustisches Linkshänderklavier, was für Vorspiele und zu Unterrichtszwecken genutzt werden könnte. Auf dem gespiegelten E-Piano fehlen in der Höhe die Tasten gis4 bis c5. In keinem Keyboard/E-Piano ist aktuell die Linksversion von Tastatur und Pedal eingebaut. Ich habe es nicht von Anfang an lernen können.
Nachteil beim Rechtsspiel
Ich kann nicht zuverlässig abrufen, was eigentlich in mir steckt. Ich kämpfe gegen meinen Körper an und muss mich mental sehr anstrengen. Beim Rechtsspiel bekomme ich Schulternackenschmerzen. Früher hatte ich die ständig.
Vorteil beim Rechtsspiel
In der Technik wurde die rechte Hand sehr gut trainiert.
c) Literaturauswahl
Habe ich als Linkshänder Vorteile, wenn ich „Klavierwerke für die linke Hand“ auf dem konventionellen Klavier spiele?
Ich habe es getestet und muss die Frage mit Nein beantworten.
Ich kämpfe auf dem Rechtsklavier gegen meine natürlichen Bewegungsabläufe an, damit es
stimmig klingt. Egal mit welcher Hand ich spiele. Egal welche Stücke ich spiele.
Das erklärt sich mir so: Ich sehe meine Hände als Einheit, die gemeinsam in eine Richtung läuft. So wie die Tastatur entweder nach rechts oder nach links läuft, kann ich die Hände nicht getrennt voneinander betrachten. Diese Einheit besteht aus meiner Führungshand (dominant) und meiner Helferhand (nicht-dominant). Die Motorik der dominanten und nicht-dominanten Hand spiegelt sich nicht. Das merke ich seit dem Umlernprozess. Der selbe Fingersatz in der dominanten Hand bewirkt etwas anderes in der nicht-dominanten Hand und umgekehrt. Er wirkt sich sehr stark auf die Phrasierung aus. Ohne die gespiegelte Tastatur kann ich weder mit der rechten noch mit der linken Hand intuitiv musizieren oder dauerhaft überzeugend phrasieren. Auch bei übereinanderliegenden Klängen wissen meine Finger automatisch, was sie zu tun haben, wenn ich sie auf der gespiegelten Tastatur spiele. Die Zusammenarbeit sowie die Balance der Hände ist ausgeglichen, wenn ich auf der Linkstastatur spielen kann. Ich musiziere viel müheloser und geschmeidiger auf der Linkstastatur. Das trifft auf Anfängerstücke genauso zu wie auf Bachs Präludien und Fugen, Etuden für die linke Hand oder Schumanns „Der fröhliche Landmann“ und so weiter. Bei ausnahmslos allen Stücken, die mir unter die Finger gekommen sind, kann ich auf dem Linksklavier deutlich differenzierter auf den Klang eingehen. Meiner Erfahrung nach müssten „Klavierwerke für die linke Hand“ eigentlich „Klavierwerke für die Helferhand“ heißen, was ziemlich dämlich klingt, aber Verwechslungen vermeidet und hier nur zum Verständnis beitragen soll. Die Tastatur muss linksrum laufen, dann gelingt mir der musikalische Ausdruck mit beiden Händen spontan und dauerhaft verständlich. Daher spiele ich lieber auf einem E-Piano linksrum als auf einem akustischen Rechtsklavier.
Schlusswort
Natürlich gibt es auch Linkshänder, die es auf dem konventionellen Klavier bis an die Spitze geschafft haben. Beispielsweise Daniel Barenboim oder Hélène Grimaud. Es stellt sich nicht die Frage, ob es geht, sondern zu welchem Preis. Egal wie begabt man ist, man spielt gegen seine Natur. Und wer weiß, wie sie auf einer gespiegelten Tastatur spielen würden, und vor allem, wie sie sich damit fühlen würden?
Juliane Linder
Foto: privat
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Zeitungsartikel über Juliane Linder: Klavier spielen mit links, Frankfurter Rundschau, 14.4.25